Von Mai 2014 bis Mai 2015 habe ich eine Weiterbildung zur Palliativ-Care Pflegekraft gemacht. In diesem Rahmen habe ich eine Abschlussarbeit geschrieben zum Thema "Filzen in Trauerzeiten". Hier
einige Auszüge:
Heilendes Filzen, Ursprung, Technik, Material, Prozess, Wirkung
„Nichts ist dazu verurteilt so zu bleiben wie es ist“ (Ernst Bloch).
Das Verfilzen von Schafwolle gehört seit Jahrtausenden zu den Tätigkeiten nomadisierender Völker. Sie stellen mit dieser Technik Produkte für das tägliche Leben her, ihre Zelte, ihre Kleidung, Gefäße, Teppiche. Das Material stammt von den Tieren mit denen sie umher ziehen, den Schafen, Ziegen, Kamelen. Dieser Hintergrund ist vielleicht mit dafür verantwortlich, das Filzen in unserem Kulturkreis mehr und mehr Einzug hält. Das Material entspricht der Sehnsucht nach etwas Ursprünglichem, Rauem, Wildem, Archaischem in unserer verfremdeten Welt voll Plastik und Silikon. Es erinnert den Menschen an Existenzielles wie Geburt und Tod, an seine Wurzeln.
Mongolen und Turkmenen kennen das Ritual des Totentuch Filzens. Eine Gemeinschaft befasst sich mit der Unausweichlichkeit des Todes, gibt dem Toten die letzte Ehre, unterstützt im gemeinsamen Tun und Gespräch die Trauernden, hilft sich selber (vgl. Nagi/ Istvan 2002, S. 27).
Wolle verfilzt durch mechanische Bearbeitung und einer warmen Lauge.
Um ein Tuch, einen Teppich, schlicht eine Fläche zu filzen, muss die lose Wolle zunächst ausgelegt werden. Noch ist sie weich, zart und flauschig, Eigenschaften, die bei uns Assoziationen von Geborgenheit, Wärme, Kindsein hervorrufen – ein Eintauchen in Erinnerung ist hier meistens unumgänglich. Dinge können betrachtet und beweint werden.
Das anschließende Verfilzen, Verfestigen der losen Fasern verläuft in drei Arbeitsschritten.
1. Behutsames Reiben der ausgelegten, durchfeuchteten Wolle. Vorsichtig, fasst zärtlich muss die Wolle gestreichelt werden, damit die einzelnen Fasern sich ineinander verhaken können, ein mögliches Muster erhalten bleibt
2. Die sich langsam verfilzenden Fläche wird in eine Noppenfolie und ein Handtuch eingerollt, so entzieht sich das Entstehende für einige Zeit den Blicken der Filzerin
3. Walken, kräftiges Bearbeiten der festen Struktur, um sie in Form zu bringen oder weiter zu stabilisieren.
Beim Filzen ist der taktile Reiz sicherlich der Eindrücklichste. Nach Helmhold (2003) ist die Haut „Erinnerungsarchiv“ und hat gleichzeitig eine „Einschreibefunktion“. Gute und schlechte taktile Erinnerungen sind in ihr gespeichert und können durch „einschreiben“ neuer taktiler Eindrücke ergänzt oder sogar überschrieben werden. Schlussfolgernd bilanziert sie, „beide Erfahrungen - eine Haut zu haben in der Funktion eines Erinnerungsarchivs und eine Haut zu bilden im Sinne einer Einschreibung können sowohl im Filzprozess wie durch ein Filzobjekt abgerufen und in therapeutischer Interaktion nutzbar gemacht werden“. Diese Fähigkeit der Haut erscheint mir für das Filzen in Trauerzeiten ebenso bedeutsam.
Viele Trauernde fühlen sich ob des Verlustes verunsichert, durcheinander, manchmal nur noch als halber Mensch. Durch den Prozess des Verfilzens von Wolle entsteht aus Chaos Struktur. Wild durcheinanderliegende Wollfasern, sowie möglicherweise anderes Material verbinden sich miteinander. Die Filzende erfährt zum einen, dass aus Unordnung Ordnung entsteht, zum anderen erlebt sie, dass sie durch ihre alleinige Aktivität diese Veränderung herbeiführen kann. (vgl. Helmhold, 2003, S. 9 und 13). Dieses Erlebnis ist unmittelbar. Das Gefühl etwas eigenständig zu verändern vermittelt Selbstsicherheit. Der persönliche Entwicklungsprozess wie Verena Kast ihn beschreibt (s. S. 2) hat begonnen.
Es ist die Stunde der Wandlung, die
stets schmerzhaft ist. Aber du täuschst
dich, denn die Worte verwirren die
Menschen. Es kommt die Stunde, in
der die alten Dinge ihren Sinn erhal-
ten, der darin bestand, dir zum Werden
zu verhelfen.
Antoine de Saint Exupéry
Filzen, ebenso wie trauern, bedeutet sich auf etwas Neues einzustellen.
Besonders im zweiten Arbeitsschritt entsteht aus Unsicherheit, ob eines formlosen Etwas, Spannung und Erwartung auf dieses Neue. In mehreren Arbeitsgängen wird die sich verfestigende Wolle gerollt. Plötzlich ist der ganze Oberkörper in Bewegung, ein Rhythmus entsteht, eine Verbindung mit der Wolle unter den Händen, das Gefühl für die Entstehung von etwas Stabilem Die Filzende kann selber bestimmen wie lange sie in diesem Zustand bleiben möchte, die Veränderung vollzieht sich im Verborgenen. Erst wenn die Zeit reif ist, kann die Rolle geöffnet werden.
Das Walken ist der letzte Arbeitsgang und fordert Muskelkraft, die Filzende spürt sich und ihre Kraftgrenzen, unter ihren Händen wird die Wolle zu einer stabilen, festen, tragenden Einheit. „Beim Betroffenen haben sich alle Dinge, die er vorher sortiert und beweint hat, verbunden zu einem neuen Ganzen (vgl. Warth, 2003, S. 39). Das Ausformen eines Gegenstands passiert wie nebenbei und erfüllt mit Freude. Wie bei der Trauer handelt es sich um einen Prozess, die Veränderung eines Zustandes in einen anderen. Im Vordergrund stehen die taktilen Reize durch die Berührung der Wolle in sich verändernder Struktur und Intensität, die Wärme des verwendeten Wassers, sowie die Geschmeidig-keit der Seife. Hinzu kommen einerseits olfaktorische-, z.B. Geruch der Schafwolle, der Seife, des Filzenden selber sowie visuelle Reize durch den Einsatz unterschiedlich gefärbter Wolle. Farbe bzw. andere Materialien ermöglichen zusätzlich Ausdruck. Nach den Unterrichtsein-heiten von Cordula Ingles würde ich filzen auch als basale Stimulation bezeichnen. Im Angesicht von Tod und Trauer können Menschen ihre Schöpfungs- und Gestaltungskraft entwickeln und damit ihre Ohnmacht und Hilflosigkeit überwinden. Beim Filzen finden Menschen Rahmen und Ausdruck für ihren Seelenzustand und die Kraft einen nächsten Schritt zu tun.
Während des gesamten Filzprozesses ist es möglich bei sich zu bleiben, die anderen ganz zu vergessen, oder ins Gespräch zu kommen über Gefühle, Tätigkeit und Erinnerung, denn Filzen kann, wenn die Filzenden das wollen, ein sozialer, verbindender Prozess sein.
Filzen hilft in jeder Trauerphase
Kreative Gestaltung wirkt ergänzend zur Sprache, manchmal sogar ersetzend, da wo Unaussprechliches die Sprache verschlägt. Filzende sind mit fast allen Sinnen in Bewegung. Ein wichtiger Aspekt bei dieser Tätigkeit ist die Freude am Tun. Es geht um Selbstvergessenheit, Selbst-gewissheit und Selbstgefühl, die Grenzen des eigenen Ichs werden gelockert, verschmelzen mit anderen Grenzen (vgl. Kast 1994). So können Menschen mit sich selbst und mit anderen - Lebenden und Verstorbenen - verbunden sein.
Ursprünglich wollte ich die Trauerphasen von Verena Kast nutzen, um zu entscheiden in welcher Verfassung die Trauernde sein sollte, um der Herausforderung der Wolle zu begegnen. Nach meinen Ausführungen zur Wirkung des Filzens, bin ich nun der Auffassung, dass Filzen in jeder Phase des Trauerns helfen kann, sofern die Trauernde etwas Positives mit Wolle verbindet.
Im Zustand der Erstarrung können warmes Wasser und Bewegung lösend wirken. Die Tränen können fließen, der Verlust kann wahrgenommen werden. Dies habe ich selber erfahren.
In der zweiten Phase, wenn unterschiedliche, widersprüchliche Emotionen im Vordergrund stehen, kann filzen das Chaos ordnen, Farben können hier gut die Gefühlswelt widerspiegeln, formbare Festigkeit kann einen Rahmen bilden, Wut oder Zorn können durch Krafteinsatz, besonders beim Walken, ausgelebt werden.
In der dritten Phase auf der Suche nach Erinnerung und Verinnerlichung könnte ein Produkt für Erinnerungsstücke oder ein Produkt der Erinnerung entstehen. Die Trauernde ist auf der Suche nach der Verstorbenen. Das Bedürfnis nach Kontakt bewirkt, dass die Trauernde immer wieder lernen muss, der Verstorbenen in einer veränderten Form zu begegnen. Wenn der Trauerprozess gut verläuft, möchte sie die Verstorbene nicht vergessen, sondern ihr einen Platz in ihren Erinnerungen, vielleicht auch in ihrer häuslichen Situation, geben. Sie möchte die Verbindung erhalten sich aber nicht mehr gebunden fühlen. Filzen könnte eine Möglichkeit sein, Trauernde in die Erinnerung eintauchen zu lassen, ohne dass sie darin versinken. In unserer Gesellschaft ist die Zeit für Erinnerung oft rar, es muss weiter gehen, der Alltag fordert. Filzen kann die Trauer kanalisieren, und bietet die Möglichkeit sich Zeit für die Erinnerung zu nehmen. Jorgos Canacakis (1990) betont, trauernde Menschen suchten nach Wegen des Ausdrucks. Auch wenn Ihnen dies nicht bewusst sei, fänden sie kreative Formen, wenn man ihnen den Raum und den Rahmen böte und ihnen Material zur Verfügung stellte, denn Trauer wolle sich mitteilen.
Erinnerung ist oft zunächst schmerzlich, man möchte sich nicht gern erinnern, besonders nicht an spannungsreiche oder schwierige Seiten und Zeiten, doch:
„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ (Martin Buber)
Nur wenn Trauernde erinnern, können sie bearbeiten und zur Ruhe kommen, ja, sogar Dankbarkeit empfinden. Dabei kann, das Material Träger von Erinnerungen sein, der Geruch, die Farben der Wolle oder die Haut selber (s. S. 4)
In der vierten Phase ist die Trauernde in ihre neuen Rollen und Aufgaben hineingewachsen. Filzen kann hier das neue Lebensgefühl verfestigen, Filz ist Garant für Beständigkeit, Tragfestigkeit und besteht viele Zerreißproben.